FVA 1008 I – Effiziente Werkstoffcharakterisierung und Modellierung von kurzfaserverstärkten Thermoplasten

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Gegenüber den etablierten duroplastischen Composites setzen sich in den letzten Jahren zunehmend Faser-Thermoplast-Verbundwerkstoffe (FTV) in der technischen Anwendung durch. Dieser Aufwärtstrend ist unter anderem auf diverse Vorteile von FTV zurückzuführen, wie die Möglichkeit zum Werkstoffrecycling und zur einfacheren Verarbeitung, die vor dem Hintergrund nachhaltiger und ressourcenschonender Produkte zunehmend an Relevanz gewinnen. Einen besonderen Stellenwert haben hierbei kurzfaserverstärkte Thermoplastverbunde aufgrund der Kombination guter mechanischer Eigenschaften mit einer kostengünstigen und effizienten Verarbeitung. In der technischen Anwendung ist insbesondere das komplexe, hochgradig nichtlineare mechanische Werkstoffverhalten ein Hemmnis. Für die Auslegung von Bauteilen benötigen Ingenieure Materialkennwerte und gleichzeitig geeignete Materialmodelle, um das Werkstoffverhalten in der computergestützten Berechnung abbilden zu können. Das sogenannte Kriechen – eine Verformung einer Komponente über der Zeit bei konstanter Last – bedarf besonderem Augenmerk, da es die Langzeitperformance signifikant beeinträchtigt und zum Ausfall einer Komponente während der Nutzung führen kann. Nach aktuellem Stand der Technik werden zur experimentellen Charakterisierung umfangreiche Prüfprogramme gefahren, die insbesondere im Falle von Zeitstandsversuchen zur Bestimmung des Kriechverhaltens zu langwierigen und kostenintensiven Prüfungen über Wochen bis Monate führen.

Das Vorhaben „Effektive Werkstoffcharakterisierung“ (FVA 1008 I) hat zum Ziel, eine Prüfmethodik zur zeit- und damit ressourceneffizienten Ermittlung des Langzeitverhaltens zu entwickeln. Ausgangspunkt ist eine neuartige, am IVW für endlosfaserverstärkte Thermoplaste (cFRTP) entwickelte kombinierte Prüf- und Modellierungsmethodik (https://doi.org/10.1016/j.compositesb.2023.110734), mittels der über einen sogenannten Stufenrelaxationsversuch ein umfangreiches und ganzheitliches Werkstoffscreening durchgeführt wird und diese Werkstoffdaten direkt für ein korrespondierendes Materialmodell genutzt werden. Dem Ansatz liegt das mechanische Konzept einer zeitunabhängigen „Gleichgewichtskurve“ (GGW-Kurve) und einer zeitabhängigen „Überspannung“ zugrunde. Die GGW-Kurve beschreibt das „wahre“ Werkstoffverhalten und kann als das Langzeitwerkstoffverhalten verstanden werden. Das im Experiment gemessene Materialverhalten ergibt sich als Summe der GGW-Kurve und der zeit- bzw. ratenabhängigen Überspannung, sodass die Überspannung die Abweichung vom „wahren“ Werkstoffverhalten beschreibt. Durch ein Extrapolationsverfahren kann über den Stufenrelaxationsversuch eine Approximation der GGW-Kurve ermittelt und gleichzeitig eine enorme Zeitersparnis erreicht werden (typische Versuchsdauer von nur ca. 1 - 2 Tagen). Das zugehörige Materialmodell kann rein auf Basis des Stufenrelaxationsversuches kalibriert werden und ermöglicht es, das komplexe Materialverhalten zu beschreiben und beispielsweise langwierige Kriechversuche durch Modellvorhersagen zu substituieren.

Im FVA Vorhaben „Effektive Werkstoffcharakterisierung“ wird dieses Vorgehen nun für kurzfaserverstärkte Thermoplaste erprobt und angepasst, um durch die Generalisierung der Methodik eine breitere Anwendung zu ermöglichen. Das Ziel ist eine synergetische und hocheffiziente Charakterisierung und Modellierung von kurzfaserverstärkten Thermoplastverbunden zu ermöglichen, um das hohe Potential dieser Materialklasse zukünftig noch besser ausnutzen zu können.

Dr.-Ing.

Sebastian Schmeer

Stellvertretender Leiter Bauteilentwicklung & Kompetenzfeldleiter Mechanische Charakterisierung & Modellierung

Spezielle Expertise: Mechanische Charakterisierung von Werkstoffen, Bauteilen und Verbindungen (dehnraten- & temperaturvariant), DIN/ISO Standardisierung, Werkstoffverhalten unter Mehraxialität (Zug/Druck und Torsion), FEM Simulation (mechanisch), Materialmodellparametrisierung, Validierung von FE-Simulationsmodellen durch experimentelle Untersuchungen, Strukturintegrität, Metall-Faserkunststoffverbunde